
Die Bilanzielle Überschuldung: Definition, Prüfung und Pflichten
Die bilanzielle Überschuldung ist neben der Zahlungsunfähigkeit einer der beiden gesetzlichen Gründe für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer juristischen Person (z.B. GmbH, AG) oder einer Personengesellschaft ohne natürliche Person als unbeschränkt haftenden Gesellschafter (z.B. GmbH & Co. KG). Es handelt sich hierbei um einen rein rechtlichen Begriff, der im deutschen Insolvenzrecht in § 19 der Insolvenzordnung (InsO) definiert ist.
Was genau ist eine bilanzielle Überschuldung?
Eine bilanzielle Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Die Feststellung erfolgt jedoch nicht anhand der normalen Handelsbilanz, sondern erfordert eine zweistufige Prüfung.
Stufe 1: Die rechnerische Überschuldung
Zunächst muss eine sogenannte Überschuldungsbilanz aufgestellt werden. Im Gegensatz zur Handelsbilanz, die vom Fortbestand des Unternehmens ausgeht (Going-Concern-Prinzip), gelten hier strengere Bewertungsmaßstäbe:
- Aktivseite (Vermögen): Sämtliche Vermögensgegenstände sind mit ihren tatsächlichen Liquidationswerten (Zerschlagungswerten) anzusetzen. Es wird also gefragt: "Was würde man für die einzelnen Vermögenswerte bekommen, wenn man sie heute verkaufen müsste?" Dies führt oft zu erheblich niedrigeren Werten als in der Handelsbilanz (z.B. für Maschinen, Firmenwert oder Forderungen).
- Passivseite (Schulden): Alle bestehenden und absehbaren Verbindlichkeiten sind mit ihrem vollen Nennwert anzusetzen. Dazu gehören auch Rangrücktrittsdarlehen, sofern der Rangrücktritt nicht den Anforderungen der Insolvenzordnung entspricht.
Ergibt diese Gegenüberstellung, dass die Schulden das zu Liquidationswerten bewertete Vermögen übersteigen, liegt eine rechnerische Überschuldung vor. Dies allein führt jedoch noch nicht zur Insolvenzantragspflicht.
Stufe 2: Die Fortführungsprognose
Ist eine rechnerische Überschuldung festgestellt, muss die Geschäftsführung zwingend eine Fortführungsprognose erstellen. Diese Prüfung entscheidet darüber, ob die rechnerische Überschuldung insolvenzrechtlich relevant ist.
- Positive Fortführungsprognose: Die Überschuldung ist abgewendet, wenn die Fortführung des Unternehmens für den Prognosezeitraum überwiegend wahrscheinlich ist. Die Geschäftsführung muss auf Basis eines schlüssigen und realistischen Unternehmenskonzepts (z.B. Businessplan, Sanierungskonzept) darlegen können, dass das Unternehmen in der Lage sein wird, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen in Zukunft zu erfüllen. Der maßgebliche Prognosezeitraum beträgt aktuell 12 Monate. Eine positive Prognose heilt die rechnerische Überschuldung, und es besteht keine Insolvenzantragspflicht.
- Negative Fortführungsprognose: Kann keine überwiegend wahrscheinliche Prognose für die Fortführung des Unternehmens gestellt werden – weil beispielsweise die Finanzierung nicht gesichert ist oder kein tragfähiges Geschäftsmodell mehr existiert –, dann liegt die bilanzielle Überschuldung im Sinne des § 19 InsO vor.
Zusammenfassend: Eine insolvenzrechtlich relevante bilanzielle Überschuldung liegt nur dann vor, wenn eine rechnerische Überschuldung besteht UND die Fortführungsprognose negativ ausfällt.
Die Verpflichtungen der Geschäftsleitung
Sobald die bilanzielle Überschuldung im rechtlichen Sinne feststeht, treffen die Geschäftsführung (z.B. den GmbH-Geschäftsführer oder den AG-Vorstand) unmittelbare und unumgängliche Pflichten.
- Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO): Die Geschäftsführung ist verpflichtet, ohne schuldhaftes Zögern einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu stellen. Das Gesetz setzt hierfür eine maximale Frist von sechs Wochen ab Eintritt der Überschuldung. "Ohne schuldhaftes Zögern" bedeutet jedoch, dass der Antrag unverzüglich zu stellen ist, sobald feststeht, dass Sanierungsbemühungen aussichtslos sind. Die Frist darf nur ausgeschöpft werden, solange ernsthafte und aussichtsreiche Sanierungsbemühungen unternommen werden.
- Überwachungspflicht: Die Geschäftsführung hat die wirtschaftliche Lage des Unternehmens kontinuierlich zu überwachen. Sie darf die Augen vor einer drohenden Krise nicht verschließen und muss bei ersten Anzeichen aktiv prüfen, ob eine Überschuldung vorliegen könnte.
- Zahlungsverbote: Ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Überschuldung dürfen grundsätzlich keine Zahlungen mehr geleistet werden, die nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar sind. Zahlungen, die zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs zwingend notwendig sind (z.B. Löhne, Miete, Strom), können unter Umständen noch zulässig sein. Jede Zahlung, die die spätere Insolvenzmasse schmälert, ist jedoch kritisch.
Die Konsequenzen bei Pflichtverletzung
Die Missachtung der genannten Pflichten, insbesondere der Antragspflicht, hat schwerwiegende Konsequenzen für die verantwortlichen Organe.
1. Strafrechtliche Konsequenzen
Das vorsätzliche oder fahrlässige Versäumen der rechtzeitigen Antragstellung erfüllt den Straftatbestand der Insolvenzverschleppung (§ 15a Abs. 4 InsO). Dies kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden. Bereits die fahrlässige Tatbegehung ist strafbar.
2. Zivilrechtliche Konsequenzen (Persönliche Haftung)
Noch gravierender ist oft die zivilrechtliche Haftung. Geschäftsführer haften mit ihrem Privatvermögen:
- Haftung für Zahlungen nach Insolvenzreife: Geschäftsführer haften der Gesellschaft persönlich auf Ersatz für alle Zahlungen, die nach Eintritt der Überschuldung getätigt wurden (§ 64 GmbHG, § 130a HGB, § 92 AktG). Sie müssen also im Zweifel aus eigener Tasche das Geld zurückzahlen, das vom Firmenkonto abgeflossen ist.
- Haftung gegenüber Gläubigern: Sie haften auch direkt gegenüber Gläubigern, deren Schaden durch die verspätete Antragstellung entstanden oder vergrößert wurde (z.B. Sozialversicherungsträgern für nicht abgeführte Beiträge oder Lieferanten, die nach Insolvenzreife noch Ware geliefert haben).
Die bilanzielle Überschuldung ist somit kein rein buchhalterisches Problem, sondern ein kritischer juristischer Zustand, der schnelles und korrektes Handeln der Unternehmensleitung erfordert, um strafrechtliche Verfolgung und den finanziellen Ruin durch persönliche Haftung zu vermeiden.